Die angelsächsische Sicht ist einseitig negativ: Europas Finanzssystem ist stabiler als oft dargestellt

Montag, 19.08.13 09:17
Sehr geehrte Leser,

bereits im Juni erschien im Handelsblatt ein Streitgespräch zwischen dem (britischen) Wirtschaftshistoriker Harold James von der Princeton University und mir. Ich kenne Harold seit meiner Zeit als Doktorand in Princeton. Er war nach Köln gekommen, um zusammen mit mir und anderen, u.a. Hilmar Kopper, um den Erhalt des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte zu kämpfen.

Der Artikel trägt den ominösen Titel “Europa sollte zurück in die Zeit vor 1648”:

Es freute mich, als Dr. Karl-Peter Schackmann-Fallis, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) mich nach dem Handelsblatt-Interview bezüglich der einseitigen Sicht von Harold James ansprach. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, seine Sicht der Dinge darzulegen und er willigte ein. In den folgenden Zeilen stellt Dr. Schackmann-Fallis dar, inwiefern die kapitalmarktorientierte angelsächsische Sicht einseitig und verzerrend ist. Er macht dies in wohl abgewogenen Wor-ten.

Wer allerdings die Zeilen genau liest, erkennt: hier findet ein Wirtschaftskrieg statt und Kontinentaleuropa hat kaum Gelegenheit, sich zu wehren. Immer noch sind unsere Politiker nicht aufgewacht. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

Mit besten Grüßen,
Ihr
Prof. Dr. Max Otte
maxotte.de


Die angelsächsische Sicht ist einseitig negativ:
Europas Finanzssystem ist stabiler als oft dargestellt

von Dr. Karl-Peter Schackmann-Fallis,

Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Sparkassen-
und Giroverbandes (DSGV)

In der Ausgabe des Handelsblattes vom 24. Juni 2013 ist unter der Rubrik „Streitgespräche“ ein Interview mit den Professoren Harold James (Wirtschaftshistoriker an der Universität Princeton) und Matthias Otte (Professor am Institut für Unternehmensführung und Entrepreneurship der Karl-Franzens-Universität Graz) zu lesen.

Dieses Interview ist deshalb interessant, weil es Stoff für kontroverse Diskussionen bietet, vor allem aber die sehr unterschiedlichen institutionellen wie wirtschaftstheoretischen Sichtweisen zwischen dem Angelsächsischen und dem Kontinentaleuropäischen im Brennpunkt aufzeigt. Dem Handelsblatt ist insofern Lob zuzusprechen, als dass es diese doch fundamental unterschiedlichen Ausprägungen und Denkrichtungen aufgreift, wenngleich es das Handelsblatt versäumt, eine kritische Einordnung – was sich insbesondere in entsprechenden Nachfragen hätte äußern sollen – vorzunehmen. Aus diesem Mangel heraus, scheint es geboten, das Interview vor allem aus der kontinentaleuropäischen Perspektive heraus kritisch zu betrachten.

Vorweggestellt sei dabei, dass es den Leser doch überrascht, mit welcher Selbstsicherheit der amerikanische Interviewpartner über europäische Sachverhalte spricht, diese jedoch letztlich im Detail unpräzise einordnet.

Diese negative Wertung muss sich allein schon deshalb ergeben, weil die spanischen Cajas als „kleine Institute“ bezeichnet werden, worauf sich auch die provokante Überschrift des Streitgespräches gründet. Diese Aussage ist indes sachlich falsch: Die Grupo Bankia wies Ende 2011 eine Bilanzsumme von 298 Mrd. EUR auf, was unabhängig davon, welche definitorische Grenze – die 30 Mrd. EUR als Grenze aufsichtlicher Signifikanz im EZB-Sinne, die 70 Mrd. EUR nach Art. 137 Abs. 5 CRR-E oder die 90 Mrd. EUR gemäß des bundesdeutschen Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen – man für den Begriff „kleine und mittlere Kreditinstitute“ ansetzt, weit jenseits dessen liegt. Selbst die zentralen Vorgängerinstitute der Grupo Bankia, die Caja Madrid und die Bancaja, wiesen für sich genommen mit ca. 190 Mrd. EUR bzw. 90 Mrd. EUR (Ende 2010) nicht die definitorischen Merkmale kleiner Kreditinstitute auf. Nun mag man über derartige sachliche Fehler hinwegsehen und sie mit der räumlichen Distanz des Forschers entschuldigen, nicht akzeptabel ist es dann aber, wenn amerikanische Strukturen unreflektiert und unadaptiert auf Europa übertragen werden sollen und sich derartige Empfehlungen auf oben erwähnte sachlich falsche Tatsachen stützen.

Wenig überraschend ist, dass, sobald amerikanische Forscher über kleine Kreditinstitute reden, stets der Verweis auf die Savings and Loan Crisis erfolgt. Übersehen wird dabei, dass diese damalige Konstellation – einmal abgesehen davon, dass es sich um genossenschaftlich organisierte Kreditinstitute handelte – mit den deutschen Sparkassen überhaupt nicht vergleichbar ist. Allein schon in den Strukturmerkmalen „Verbundsystem“ und „Regionalprinzip“ unterscheiden sich die deutschen Sparkassen. Hinzu kommt – völlig anders als damals in den USA – ein diversifiziertes Kreditportfolio, vor allem aber führte das Fristentransformationsrisiko, das seinerzeit durch die Zinsobergrenzen auf der Aktivseite katalysiert wurde, zur Savings and Loan Crisis.

Auf die sachlich falsche Behauptung – die das Handelsblatt bedauerlicherweise dann auch noch als Überschrift wählte – bei den spanischen Cajas handele es sich um „kleine Kreditinstitute“, ist bereits eingangs hingewiesen worden. Ein schwerwiegenderer Fehler ist indes, dass die Ursache der Krise im spanischen Bankensektor allein mit dem – falschen – Größenargument in Verbindung gebracht wird. Die Krise des spanischen Bankensektors hat zweifellos eine makroökonomische Komponente, ein zentrales Element war jedoch die Aufgabe des Regionalprinzips etwa 15 Jahre vor der Krise, die zu einem ungebremsten und ruinösen Verdrängungswettbewerb unter den Cajas führte. In diesem Expansionsdrang wurden Kredite vergeben, wobei die Bonität des Kreditnehmers oder der zu erwartende Ertragswert des finanzierten Objektes das im Grunde in keiner Weise hergab. Beigetragen haben ebenso ungeeignete Governance-Strukturen im spanischen Cajas-Sektor. Dass die spanische Regierung die Cajas nun wieder auf ihren ursprünglichen regionalen Kern zurückzusetzen versucht und explizite Größengrenzen setzt, ist nur folgerichtig, aber bedauerlicherweise zu spät und eine extrem teuer erkaufte Erkenntnis. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine jüngere Ausarbeitung von Pablo Martín-Aceña (University of Alcalá, Madrid) „The Savings Banks Crises in Spain: When and How?“, welche die Ursachen der Krise der spanischen Cajas ausführlich darlegt, aber auch argumentiert, dass die Cajas, solange sie reine Sparkassen waren, über fast zwei Jahrhunderte von Krisen unberührt geblieben sind.

Völlig überrascht und irritiert ist der kontinentaleuropäische Leser dann aber darüber, dass Herr Professor James gegen den Bankkredit allgemein argumentiert und den Anleihemarkt uneingeschränkt lobt. Streng genommen – und allein die Diplomatie verbittet andere Bezeichnungen – muss man hinzufügen: „Diese Aussagen sind unglaublich“. Vor allem. sind sie mit Blick auf die jüngere Empirie sachlich falsch: Momentan erfahren gerade in den angelsächsisch geprägten Finanzsystemen klein- und mittelständische Unternehmen eine Finanzierungsklemme. Dies ist auch der Grund, warum sowohl die britische Regierung und noch viel mehr die Labour-Opposition ernsthaft für den Aufbau eines die City of London ergänzenden regionalen Bankensystems plädieren.

In der Bundesrepublik Deutschland ist es indes zu keiner Zeit, über den Zyklus der Finanzkrise betrachtet, auch nur annähernd zu einer Kreditklemme für KMU gekommen. Die sehr schnelle und überaus starke wirtschaftliche Erholung der deutschen Volkswirtschaft nach dem Einbruch 2009 hat zweifellos mehrere Ursachen. Gleichwohl haben die Sparkassen und Genossenschaftsbanken ganz erheblich dazu beigetragen, eine Kreditklemme in Deutschland – wie sie in anderen Ländern der Euro-Zone bzw. der EU auftrat und auftritt – zu verhindern. Der beachtliche wirtschaftliche Aufschwung in der Bundesrepublik Deutschland und somit auch die Möglichkeit, dass die Bundesrepublik in der aktuellen Staatsschuldenkrise eine stabilisierende Schlüsselrolle wahrnehmen kann, sind auch auf die Solidität und Verlässlichkeit der Kreditversorgung der Realwirtschaft durch die dezentral organisierten Verbundgruppen zurückzuführen.

Gerade die von Professor James indirekt kritisierte Dezentralität und Eigenverantwortlichkeit der Institute der Sparkassen-Finanzgruppe ebenso wie die des genossenschaftlichen Finanzverbundes, die daraus erwachsende Nähe zum Kunden sowie die Kenntnis der regionalen Strukturen tragen entscheidend dazu bei, dass asymmetrische Informationen, die gerade im Unternehmenskreditgeschäft auftreten, abgebaut werden können. Dies ist letztlich der Schlüssel zur Stabilität in der Kreditversorgung gegenüber KMU. Darüber hinaus verwenden die Sparkassen entstehende Ertragsüberschüsse zu großen Teilen, um soziale, ökologische oder kulturelle Aktivitäten in der Region zu fördern. Damit erfüllen sie im Sinne einer ausgeprägten Social Governance das, was die Gesellschaft von verantwortungsvollen Unternehmen erwartet.

Das in Deutschland vorherrschende bankbasierte Finanzsystem hat sich also nicht nur empirisch bewährt, sondern ist auch strukturell die adäquate Antwort für eine durch klein- und mittelständische Unternehmen geprägte Wirtschaftsstruktur. Eine Kapitalmarktfinanzierung verlangt hingegen nach größeren Volumina und bedarf hoher Publizitätsanforderungen, einschließlich einer Ratingerstellung. Sie steht daher nur Großunternehmen oder größeren Mittelständlern offen. Auch tritt bei Kapitalmarktfinanzierungen das Problem asymmetrischer Informationen verschärft auf, wodurch insb. in Schwächephasen rasch Finanzierungsengpässe entstehen. Zudem ist für den Klein- und Mittelstand die kostenseitige Planbarkeit von Investitionsvorhaben enorm wichtig. Bei kurz laufenden Kapitalmarktfinanzierungen tragen die Unternehmen das Zinsänderungsrisiko vollständig. Auch besteht bei Anleiheemissionen stets das Platzierungsrisiko. Insofern gibt es gute Gründe, warum eine bankbasierte Unternehmensfinanzierung das vorteilhaftere System in Bezug auf eine klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur ist. All diese Aspekte werden jedoch offensichtlich von Herrn Professor James ausgeblendet.

Dass dann von einem Wirtschaftshistoriker die an sich richtige, aber das Problem asymmetrischer Informationen und Moral Hazard ignorierende – und das zudem vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrungen mit Risikostreuung über Kreditverbriefungen – Aussage kommt, man müsse Risiken verteilen, nicht bündeln, sonst müsse sie später der Staat tragen, ist doch mehr als diskussionswürdig einzustufen.

Im weiteren Fortgang des Interviews wird dann jedoch von Herrn Professor Otte die kontinentaleuropäische Sicht eingenommen. Der Hinweis auf die realwirtschaftliche Bedeutung kleiner Kreditinstitute und die Kritik an ihrer regulatorischen Gleichbehandlung mit international tätigen Großbanken können nur ausdrücklich unterstützt werden. Und in der Tat, die (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehene) identische Regulatorik – oder das Single Rule Book, wie es die EU-Kommission nennt – verursacht wegen der Fixkosten der Aufsichtsstandards ein regulatorisches Unlevel Playing Field zugunsten der großen Kreditinstitute. Dies mag im Verbund noch in Teilen abzufedern sein, aber kleine Kreditinstitute ohne Netzwerk haben enorme Schwierigkeiten mit diesem Fixkostenblock.

Diese Tatsachen spiegeln sich dann ebenfalls in der Einschätzung von Herrn Professor Otte zur Bankenunion bzw. zur europäischen Aufsicht wider. Diese sollte sich – allein schon aus Gründen der Informationsverfügbarkeit der Aufsichtsbehörden – auf die im Binnenmarkt grenzüberschreitend tätigen Institute konzentrieren.

Wie bereits eingangs ausgeführt, erschien es im Lichte der aus meiner Sicht stark angreifbaren – und empirisch zweifelhaften – Argumentation von Herrn Professor James zur Bereicherung der Diskussion förderlich, einige Kommentare und ergänzende Informationen beizusteuern. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es mir fernliegt, das angelsächsische Finanzsystem in seiner gewachsenen Tradition, vor allem in den USA und Großbritannien, infrage stellen zu wollen. Stattdessen ist zu betonen, dass das deutsche bzw. kontinentaleuropäische bankbasierte Finanzsystem sich nachhaltig auch in turbulenten Zeiten bewährt hat und eine Überlegenheit eines der beiden Systeme nicht per se postuliert werden sollte. Vielfalt und Akzeptanz der Heterogenität ist auch hier das Stichwort, was jedoch bedauerlicherweise im Zuge der Internationalisierung von Regulierung und Aufsicht zugunsten des kapitalmarktbasierten Finanzsystems zu häufig verloren geht.



Den Titel als Dipl.-Volksw. erhielt Max Otte 1989 durch den erfolgreichen Abschluss des Studiums an der Universität Köln. 1991 erlangte er den Titel Master of Arts in Public Affairs an der...


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