Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,
kein weiterer Rückblick mehr, auch keine Vorschau. Vielmehr mische ich meine Beobachtungen des vergangenen Jahres mit jahrzehntelangen Erfahrungen, um daraus grundsätzliche Gedanken abzuleiten. Diese sind subjektiv, natürlich. Ob Sie, geschätzte Sparer und Anleger, damit etwas anfangen wollen, müssen Sie selbst entscheiden. Ich halte die folgenden Überlegungen schon dann für nützlich, wenn Sie sich damit auseinandersetzen. Vieles davon habe ich in meinen Vorträgen und Kolumnen bereits angeschnitten, manches davon immer und immer wieder. Und mit jedem Jahr der Begleitung von Finanzmärkten und ihren Akteuren wird gesammeltes Wissen bestätigt, ergänzt oder modifiziert.
Unverändert bleibt eine übergeordnete These, die in meinen Augen höchste Priorität genießt und bei allen Fragen des privaten Geldmanagements berücksichtigt werden muss. Ich behaupte: Es gibt ihn gar nicht, den privaten Sparer und Anleger. Die Menschen sind viel zu unterschiedlich in ihren Neigungen, Voraussetzungen und Zielsetzungen – nicht zuletzt in ihrer Risikobereitschaft, gerade wenn’s ums Geld geht! Auch bei der Ausgangslage geht die Schere doch weit, weit auseinander: beim Vermögen, Einkommen und frei verfügbaren Barkapital.
Das ist allseits bekannt, nichts Besonderes, werden Sie vielleicht einwerfen. Klar. Aber die Konsequenzen werden nicht ausreichend diskutiert. Immer wieder verbreitete Thesen stimmen einfach nicht, wie etwa: „Privatanleger liegen schlechter als Profis, weil sie meist zu spät handeln.“ Pauschalurteile wie dieses sind nicht zulässig. Außerdem könnte man sogleich hinzufügen, dass die meisten Fondsmanager Versager sind – auch diese Verallgemeinerung ist falsch.
Aus diesem Blickwinkel möchte ich appellieren, nicht alles über einen Kamm zu scheren. Das gilt insbesondere für die konkreten Ratschläge, die von allen Seiten auf die Bürger herabprasseln. Denn: Nicht für jeden ist die Aktie die ideale Anlageform, nicht für jeden eignen sich Derivate, nicht für jeden kommt eine Risikostreuung über verschiedene Anlageklassen in Frage usw. Weiteres Beispiel: Wenn kritisiert wird (ich habe das sehr oft getan), dass die Bundesbürger falsch sparen, statt richtig zu investieren – gerade in einer Zeit der Finanzrepression –, dann wird die bei einem Teil der Bevölkerung fehlende Grundlage vernachlässigt. Geringverdiener und Hartz-IV-Bezieher sind doch in aller Regel gar nicht in der Lage, auch nur 50 Euro monatlich etwa für einen Fondssparplan zur privaten Altersvorsorge abzuzwacken!
Ein zweiter Aspekt: Viele kritische Fachleute rufen enttäuschte Privatanleger auf, sich nicht mehr auf die Anlageberatung durch Banken und Sparkassen zu verlassen. „Entwickelt Euch zu Selbstentscheidern!“ heißt es dann. Ich selbst stehe auch zu dieser Forderung, räume nach vielen Gesprächen mit den Betroffenen aber ein, dass dieser Weg nicht jedermanns Sache ist. Ein durchaus nicht kleiner Teil der Bundesbürger kann und will nicht (mehr) die Rolle eines Geldexperten übernehmen. Vor allem ältere und wohlhabende Menschen suchen einen Kundenbetreuer, dem sie ihr Geld und Kapital anvertrauen können – wie man das vor Jahrzehnten noch gewohnt war. Das ist das Schlüsselwort: Vertrauen. Es ist weitgehend verloren gegangen. So lässt sich auch nachvollziehen, warum wieder viel zu große Beträge auf Bankkonten, Sparbüchern liegen oder sogar zuhause gebunkert werden: „Mit Bargeld kann doch nichts passieren.“ Nicht zum ersten Mals habe ich folgendes gehört, was mir ein guter Bekannter kürzlich entgegen hielt: „Hör doch auf mit Kaufkraftverlust und solchem Zeug! Das ist mir wurscht. Wenn ich einen 100-Euro-Schein zu meiner Sparkasse bringe, will ich 100 Euro jederzeit wieder abheben können – nicht mehr.“
Dass ihr Finanz-Know-how unterentwickelt ist, geben die meisten Bundesbürger offen zu und wünschen sich mehr Wissen. Aber welches? „Information ist alles“, gehört seit Jahren zu den beliebten Sprüchen, mit denen sich die „Wissenden“ erhobenen Zeigefingers an die „Unwissenden“ wenden. Gerade der Kapitalanleger muss erkennen, dass die Informationsflut nicht die Lösung, sondern ein modernes Problem geworden ist. Lautete vor ein paar Jahrzehnten die gegen Insiderwissen gerichtete Forderung nach mehr „Transparenz“, so ist daraus eine (fast) totale Transparenz geworden. Wem nutzt sie? Es ist geradezu lächerlich, dass die täglichen Zuckungen an den Börsen noch so begründet werden wie vor der Globalisierung. Im Zeitalter von Algo-Trading und Hochfrequenzhandel sollten auch die Medien allmählich begreifen, dass die meisten ihrer Gesprächspartner gar nicht mehr wissen (können), wer und was hinter den Kursbewegungen steckt.
Klar erkennen und akzeptieren müssen wir allerdings, dass als Folge nervöser Kurzfristigkeit der institutionellen Akteure die Aktienkurse dazu übergegangen sind, fortwährend – wenn auch oft nur für Minuten oder Stunden – auf alle thematisch relevanten Meldungen zu reagieren, selbst dann, wenn sie inhaltlich nichts Neues bieten. Das ständige Zerpflücken von Notenbank-Kommentaren und Konjunktur-Indikatoren liefert dazu täglich Beispiele. Der selbstbewusste langfristige Ansatz ist großen professionellen Strategen verloren gegangen.
Die dramatisch veränderte Informationslandschaft wurde schon vor langer Zeit warnend beschrieben – außerhalb der Finanzmärkte. Beispiel: Im Jahr 2.000 formulierte der australische „Ruhe-Guru“ Paul Wilson in „Das große Ruhe-Buch – Mit Gelassenheit durchs Leben“: „Wir leben in einer Zeit, die vom inflationären Umgang mit Informationen geprägt ist. Täglich werden wir mit einer Fülle von Nachrichten und Daten zugeschüttet, die wir gar nicht verarbeiten können. Und täglich wird der Berg von Informationen größer. Doch trotz der ungeheuren Anhäufung von Informationsmaterial scheinen wir weniger denn je zu wissen.“ Recht hat er.
Um zu erhärten, worauf es mir ankommt, schlage ich den Bogen zu einem international bekannten Zeitzeugen, der als Ex-Investmentbanker und Bestsellerautor für Furore sorgt, zuletzt mit dem 2014 erschienenen Buch „Flash Boys – Revolte an der Wall Street“. Michael Lewis schreibt darin: „Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben sich die Finanzmärkte rasant verändert, doch unsere Vorstellung hat nicht mit dieser Revolution Schritt gehalten. Die meisten Menschen denken beim Stichwort Börse nach wie vor an Bildschirme mit Kurstickern und an das Börsenparkett mit fuchtelnden und schreienden Alphamännchen. Dieses Bild ist veraltet, diese Welt gibt es längst nicht mehr. An den Börsen arbeiten zwar noch Menschen. Aber sie sind weder die Herren des Finanzmarkts, noch haben sie einen privilegierten Einblick in die Märkte. Heute findet der Aktienhandel in einer Black Box statt, genauer gesagt in Hochsicherheitsgebäuden in New Jersey und Chicago. Über das, was in der Black Box passiert, dringen nur sehr unzuverlässige Berichte in die Öffentlichkeit – selbst Experten haben kaum eine Vorstellung vom Was, Wie und Warum. Und der durchschnittliche Anleger ist vollkommen ahnungslos.“
Ja! Wir müssen Sie hinnehmen, die „Schwarzen Kisten“, wo von Menschen (nicht selten Physiker) entwickelte, komplexe Computerprogramme die laufenden Entscheidungen treffen, die aber im Dunkeln bleiben. Das allein genügt, um einmal mehr vor dem Ehrgeiz zu warnen, ständig besser als die Märkte sein zu wollen. Es kommt doch einen guten Grund, dass die börsennotierten Indexfonds eine Erfolgsgeschichte von historischer Qualität geworden sind. Selbst erfahrene professionelle Strategen setzen ETFs zunehmend für die Vermögensverwaltung ein. Man geht mit den Märkten, nicht gegen sie.
Mein all dies umschließender Appell lautet: Seinen Sie kritischer denn je gegenüber allem, was Sie an täglichen Informationen schlucken müssen! Das gilt für die gewohnten Tendenzbegründungen der Börsianer und der Medien ebenso wie für die inflationären Konjunkturindikatoren von China bis Amerika. Treffen Sie als Konsequenz eine Grundsatzentscheidung, ob Sie der „neuen Kurzfristigkeit“ aktiv folgen wollen, also als Trader, oder ob Sie die Aktie trotz allem als das behandeln wollen, was sie von Natur aus ist – eine ideale langfristige Kapitalanlage!
Als letzten Zeitzeugen zitiere ich gerne den Chef des TM Börsenverlags und Herausgeber des neuen (und empfehlenswerten) Buchs „Das Börsenbuch – Börsenwissen, Börsenzyklen, Börsenvision“. Thomas Müller schreibt im Vorwort: „Es gibt keine wirkliche ‚Begründung‘ für Kursentwicklungen. Entscheidend ist einzig und allein, was die Kurse machen. Und die Aneinanderreihung von Kursen ergibt Trends. Und nur in Trends kann an der Börse Geld verdient werden.“
Ich wünsche Ihnen allen die für Sie richtigen Kurse im neuen Jahr!
Ihr
Hermann Kutzer
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