Smart Investor Weekly: Antizipationsmonster

Donnerstag, 16.06.16 09:42
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Unübersichtliche Entwicklungen an allen Fronten


Mündel-Unsicher
Es war lediglich eine Frage der Zeit: Um kurz vor halb zehn am gestrigen Dienstag notierten erstmals auch zehnjährige Bundesanleihen mit einer Negativrendite. Das heißt auf gut Deutsch: Anleger bezahlten der Bundesrepublik Geld, um es ihr bis zum Jahr 2026 (!) ausleihen zu können. Zwar hat man sich an derlei Irrsinn bereits gewöhnt, medial wurde das gestrige Ereignis dennoch nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet. Früher hatte man solche Papiere als „mündelsicher“ bezeichnet, ohne Risiko, geeignet für Witwen und Waisen. Doch die Zeiten sind hart geworden für Witwen und Waisen. Sicher ist heute nur noch der sichere Verlust. Und dies nicht nur für ein bisschen Taschengeld, sondern für eine elementare Säule der Altersvorsorge vieler Bürger. Mehr als 1 Bio. EUR in zehnjährigen Anleihen hatte der Bund zuletzt ausstehen – der Großteil davon dürfte bei Banken, Versicherungen und Pensionskassen liegen.

Nur zum Vergleich: In Summe besitzen die Bundesbürger rund 3,2 Bio. EUR Nettogeldvermögen. Ein großer Teil davon dürfte mit Bundesanleihen in einer Anlage investiert sein, die man wohl getrost als eines der größten „Ponzi-Schemen“ aller Zeiten bezeichnen kann. Denn außer Regularien kann es lediglich die Spekulation auf noch tiefere Minuszinsen sein, die Anleger in solche Anleihen treibt. Es braucht also stets einen Dummen, der zu einem späteren Zeitpunkt noch tiefere Zinsen akzeptiert. Und in der Tat, mit der EZB scheint es diesen derzeit zu geben. 80 Mrd. EUR monatlich pumpt die Zentralbank derzeit in den Anleihemarkt, rund ein Drittel davon in deutsche Staatspapiere. Genau hier wird es jedoch deutlich: Es ist kein Marktpreis, den wir hier erstaunt beobachten, sondern vielmehr planwirtschaftliche Preissetzung.

„Taschenberger“
Gerade erst haben sich im noblen Dresdner Taschenbergpalais die Bilderberger getroffen. Während diese Zusammenkünfte in der Vergangenheit streng geheim abliefen und deren bloße Existenz über lange Jahre als „Verschwörungstheorie“ belächelt wurde, versuchte man sich nun in einer Art Charmeoffensive – sofern das aus einer zur Festung ausgebauten Hotelanlage heraus überhaupt möglich ist. Heute soll also der Eindruck vermittelt werden, als sei es die normalste Sache der Welt, dass sich die Mächtigen der überwiegend westlichen Hemisphäre zum informellen Austausch treffen.

Auch sogenannte Alpha-Journalisten waren – damals wie heute – mit von der Partie. Während diese früher peinlich darauf bedacht waren, dass ihre Zugehörigkeit zum „inneren Kreis“ nicht publik wurde, berichten ihre Gazetten heute Belanglosigkeiten auf „Yellow Press“-Niveau. Berichte mit Substanz über das, was da hemdsärmelig besprochen wurde, suchte man jedenfalls vergeblich – obwohl die „Crème de la Crème“ des Journalismus mitten drin statt nur dabei war. Man traf sich ja – wie gesagt „informell“ – und damit auch ohne Beschlussfassung, Abschluss-Communiqué oder Berichtspflichten. 
 

Business as usual
Der zweite Aufreger der Woche war die bevorstehende Brexit-Abstimmung am 23. Juni. Zwar weiß man schon seit geraumer Zeit um diesen Termin, mit zunehmender Annäherung an das Schicksalsdatum zeigen aber insbesondere die EU-Anhänger Nerven. Sie malen für den, nach neuesten Umfragen wahrscheinlicher gewordenen Fall eines Brexits den Untergang Europas an die Wand – oder drohen damit. So kündigte die mittlerweile verdient auf rund 20% Zustimmung abgesunkene SPD den Briten für den Fall eines Brexits allen Ernstes „außerordentlichen Druck“ an. SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer warnte, dass die EU bei einem Nein der Briten eine „harte Haltung“ zeigen werden. Das ist natürlich vollkommener Blödsinn. Warum sollte die EU nach(!) der Abstimmung eine harte Haltung zeigen?

Weil dort Kindergartenkinder an der Macht sind, die nicht verlieren können?! Die Denkungsart mancher Politiker ist erschreckend einfach, vor allem weil sie uns gerne versichern, dass die Dinge so kompliziert wären, dass das Volk sie nicht mehr verstünde. Die Briten werden sich ohnehin als pragmatisch erweisen, egal wie die Abstimmung ausgeht – „Business as usual“. Die traurige Wahrheit aber ist, dass die EU nach Jahrzehnten real existierender Europapolitik keinerlei Feuer mehr in den Herzen der Menschen entfachen kann und ihre einzige Chance im Schüren diffuser Ängste sieht – eine schöne „Wertegemeinschaft“ ist das. In Sachen Charmeoffensive könnten die Brüsseler Apparatschiks inzwischen selbst von den Bilderbergern lernen.

Für die Märkte, die das Thema mittlerweile wohl aus allen Richtungen betrachtet haben, könnte sich die Abstimmung – nach einem kurzen Holpern – letztlich als Non-Event herausstellen.Märkte sind „Antizipationsmonster“ und damit oft viel klüger als die meisten Analysten, die jetzt den Brexit diskutieren. Und Non-Events betrachtet man am besten mit Humor, was nebenbei auch ein anarchisch gutes Mittel gegen geschürte Ängste und gegen Leute ist, die sich allzu ernst nehmen. Und in dieser Woche outete sich auch noch der britische Ausnahme-Komiker John Cleese („Monty Pythons“, „Fawlty Towers“, etc.) als Brexit-Befürworter. Er sehe in der EU keine Chance auf maßgebliche Reformen. Seine „Forderungen“ an die EU: „Euro abschaffen, Rechenschaft einführen und Jean-Claude Juncker hängen“. Nicht jeder versteht britischen Humor, am wenigsten in Brüssel oder Berlin.

 
 

What a difference a week makes …
Nachdem der DAX in der Vorwoche noch seine kleine Abwärtstrendlinie (vgl. Abb., rote Linie) überwunden hatte, trübte sich das Bild in den vergangenen fünf Handelstagen massiv ein. Nicht nur wurde die genannte Linie wieder unterschritten, die Bewegung nahm in der Folge auch deutlich an (Abwärts-)Dynamik zu. Der Ausbruch nach oben ist damit gescheitert. An dieser Stelle zwei grundsätzlich Bemerkungen zu solchen Betrachtungen: In den Chart subjektiv(!) eingezeichnete Trendlinien sind keine Prognosen, sondern Arbeitshypothesen. Nähert sich der Kurs einer solchen Linie, entscheiden die Marktteilnehmer durch ihre Handelsaktivität, ob die durch die Linie repräsentierte These weiter Bestand hat. Das ist immer dann der Fall, wenn sie erfolgreich getestet wurde.

Wird sie dagegen durchbrochen, ist die These (vorläufig) zu verwerfen und kann sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Die Charttechniker sagen zu diesem Phänomen „aus Widerstand wird Unterstützung“ bzw. „aus Unterstützung wird Widerstand“ und begründen dies vor allem psychologisch. Erfolgt nach einem Durchbruch ein erstes Zurücklaufen an eine solche Linie, so spricht man von einem Test. Das war im Wesentlichen die Situation vom vergangenen Mittwoch in Bezug auf die rote Abwärtslinie. Dieser Test erwies sich als erfolglos und damit auch der Ausbruch selbst. An der roten Linie lässt noch ein weiteres Phänomen demonstrieren. Sie liegt lediglich auf zwei Punkten (rote Markierungen) auf und wurde nicht ein einziges Mal(!) erfolgreich getestet.

Sie war also nur eine schwache These – schließlich lässt sich in vielen Charts eine nahezu beliebige Anzahl von Linien durch lediglich zwei Punkte konstruieren. Bedeutsamer sind da schon die beiden blauen und die grüne Linie (Auflagepunkte und Tests wieder durch Markierungen verdeutlicht). Das endgültige Abprallen an der langen blauen Widerstandslinie war daher ein wichtiges Signal; echte Abwärtsdynamik entwickelte sich nach dem Unterschreiten der kurzen, aber durch mehrere Tests gut bestätigten blauen Unterstützungslinie. Beide Linien bilden zusammen zudem eine bearishe Keilformation. Die nächste bedeutsame Marke ist der Unterstützungsbereich um 9.300 Punkte, der durch die grüne Linie repräsentiert wird.

Fazit
Einige historische Entwicklungen prägen derzeit das Umfeld: Der mögliche erste Austritt eines Landes aus der EU und Negativzinsen bei zehnjährigen deutschen Bundesanleihen. Trotz aller düsterer Prognosen und Verunsicherung – die Märkte sind „Antizipationsmonster“, die die künftige Entwicklung bereits aktiv einzupreisen versuchen.
 

Ralph Malisch, Christoph Karl

Quelle: Smart Investor