Smart Investor Weekly: Frühstücksdirektoren im Panikmodus

Donnerstag, 30.06.16 10:11
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Für die Märkte ist der Brexit nun weitgehend abgehakt. Ob das so bleibt entscheidet die Politik.


Historische Weichenstellung
Am vergangenen Freitag haben wir uns unter dem Titel „Europa, reloaded“ eingehender mit dem Anlauf zum Brexit und den unmittelbaren Reaktionen befasst. Unser Fazit war – entgegen dem kompletten Festlandmainstream –, dass sich der Brexit im Nachhinein durchaus als eine Sternstunde der europäischen Demokratie und als eine entscheidende Weichenstellung zu einem besseren Europa erweisen könnte. Erwartungsgemäß zeterten die Funktionsträger und Kostgänger der EU. Häme, Härte und Hochnäsigkeit waren die vorherrschenden ersten Reaktionen. Das Nachtreten zeigte sich sogar beim Ausscheiden der Engländer aus der EM – den sonst unablässig geforderten „Respect“ mochte man der Inselauswahl jedenfalls nicht zollen. Dünn ist er, der „Firnis der Zivilisation“.
 

Schreiende Botschaft, taube Ohren
Eine schreiendere Botschaft hätten die Briten nicht an die EU senden können – auf taubere Ohren als in Brüssel, Berlin und Paris hätten sie allerdings auch nicht stoßen können: „Helm enger schnallen!“, „Weiter so!“, „Mehr Europa!“, ist das fantasielose Dauermantra der selbsternannten Eliten. Als ob die normalen Briten nun weniger gute Nachbarn der normalen Deutschen geworden wären, nur weil sie mehrheitlich den Brüsseler Apparat abgelehnt haben, was nebenbei bemerkt auch eine wachsende Anzahl an Festlandseuropäern tut. Man sah praktisch in Echtzeit wie Konflikte zwischen Ländern geschürt werden – und zwar von oben! Politik und Großmedien marschierten wieder einmal Hand in Hand. Das ändert freilich nichts daran, dass die Sache anschließend den normalen Menschen in die Schuhe geschoben wird – „die Deutschen“, „die Briten“, etc.

Das ist geradezu ein Musterbeispiel für psychopathisches Verhalten. Es bleibt zu hoffen, dass nach der ersten Aufregung in Brüssel und aktuell besonders in Berlin ein wenig Vernunft einkehrt und mit der Korrektur der massiven Fehlentwicklungen begonnen wird. Ansonsten ist es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Land ins Rettungsboot flüchtet, um dem sinkenden EU-Schiff zu entkommen. Die Einleitung echter Reformen würde allerdings voraussetzen, dass sich unter den hochbezahlten Schönwetterkapitänen und Frühstücksdirektoren der EU auch ein paar gestandene und(!) ideologiefreie Krisenmanager befinden.
 

„Zerstörte Zukunft“
Erwartungsgemäß wurde am knappen Abstimmungsergebnis herumgemäkelt. Wenn Ursula von der Leyen ebenso populistisch wie sachlich falsch behauptet: „Die Älteren haben den Jungen ihre europäische Zukunft zerstört“, dann war dies sicher kein Hinweis auf die extreme Jugendarbeitslosigkeit im Süden der EU. Zwar ist richtig, dass die Jungen mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt hatten, allerdings rechnet Julian Reichelt in seinem lesenswerten Bild-Kommentar „Warum die Jungen selbst schuld sind am Brexit … und keine armen Opfer der Alten“ vor, dass die Wahlbeteiligung der unter 24jährigen um 20 Prozentpunkte unter der der über 65jährigen lag.

Den Jungen war ihre „europäische Zukunft“ – gemeint ist aber nur die EU – also nicht einmal wichtig genug, um den Hintern zu heben. Lediglich eine Randbemerkung in diesem Zusammenhang ist die in der Geschichte stets auffallend große Zuneigung von Ideologen und autokratischen Machthabern zur Jugend. Während die Alten in der Regel nicht mehr als „Neue Menschen“ einer „Neuen Zeit“ taugen, wird der noch gut formbare Nachwuchs mit Hingabe bearbeitet – und endete oft genug als fanatisiertes letztes Aufgebot auf dem Schlachtfeld. Auch dieser Missbrauch der Jugend trägt psychopathische Züge.
 

Jung gegen Alt
Nach dem bewährten Prinzip „Teile und Herrsche“ wird nun also von außen ein Keil zwischen Jung und Alt getrieben. Einzelne EU-Extremisten haben schon die Einschränkung bzw. Abschaffung des Wahlrechts für Ältere gefordert, sofern es um Zukunftsfragen geht. Um welche Fragen geht es denn sonst so bei Wahlen? Eine deftige Diskriminierung – hier Altersdiskriminierung – ist augenscheinlich nur dann ein Problem, wenn diese der Sache nicht dient. Vielleicht sollte man künftig auch bei Rauchern, Motorradfahrern und Fettleibigen das Wahlrecht einschränken, weil ihre statistische Lebenserwartung ebenfalls kürzer ist. Oder mit dem gleichen Argument ganz generell bei Männern? Liebe Feministinnen, das war ein Scherz. Die EU hat kein „Demokratiedefizit“, sie ist antidemokratisch.

Und so tönt es unterschwellig aber folgerichtig, dass Demokratie schädlich und das Volk mit den großen Weichenstellungen überfordert sei – der fürsorglich gehegte Bundesbürger kennt es ohnehin nicht mehr anders. Noch-Bundespräsident Gauck ließ uns konsequenter Weise wissen: „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.“ Schon merkwürdig, dass europaweit die Bevölkerungen – das Wort Völker mag Gauck nicht verwenden – nun über Nacht zum Problem geworden sein sollen. Bei diesem abstrusen Amtsverständnis fühlt man sich doch an die Worte Bertolt Brechts erinnert: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Bertolt Brecht und George Orwell würden staunen, wie ihre Warnungen den Regierungen mittlerweile als Blaupausen dienen.
 

Scoxit?
Eine Folge des Brexits könnte übrigens ein erneutes „Scoxit“-Referendum sein. Noch im Jahr 2014 scheiterte die Loslösung der Schotten von Großbritannien. Wenn man in London das Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, dann kann man allerdings wenig Argumente gegen ein solches Referendum vorbringen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Schottland mit einem Brexit substantiell verändern würden. Der Umgang mit den Schotten ist auch ein Gradmesser für die Wahrhaftigkeit der Brexit-Kampagne. Festland-Spott über „Kleinbritannien“ ist dennoch unangebracht. Erstens erscheint uns ein Europa starker Regionen ohnehin als die bessere Lösung. Zweitens könnte ein weiterer Exit dann endgültig auch die vorhandenen Fliehkräfte und Sezessionsbestrebungen auf dem Kontinent freisetzen. Wird der Brexit vollzogen – was nach Stand der Dinge wahrscheinlich, aber noch keine ausgemachte Sache ist –, dann tut sich für Deutschland ein zweifaches Problemfeld auf:

Zum einen verliert es seinen wichtigsten marktwirtschaftlich orientierten Verbündeten in der EU – das betrifft zwar weniger die Regierung Merkel, aber doch die grundsätzliche Positionierung des Landes. Zum anderen wird das relative Gewicht Deutschlands in der EU noch größer, was nach aller Erfahrung dazu führen wird, dass es sich noch kleiner machen wird. Im Endeffekt wird Frankreich der große Gewinner sein, der die EU in diesem „window of opportunity“ noch stärker nach den eigenen Vorstellungen formen wird. Hoffnung gibt es dennoch: Am Horizont zeichnet sich nämlich ein neuer Wettbewerb der Systeme ab: Die immer sozialistischere EU auf der einen und marktwirtschaftliche Inseln wie Großbritannien oder die Schweiz auf der anderen Seite. Von einer solchen Konstellation profitieren vor allem Unternehmen und mobile Private. Es könnte – wie schon nach der Wahl Hollandes – zu einem Wealth- und Braindrain über den Ärmelkanal kommen.
 

Bester Deal: Kein Euro
Eine interessante Formulierung zum Brexit entnehmen wir einer Aussendung des Großspekulanten George Soros. Demnach hätten die Briten den besten aller möglichen Deals mit der EU gehabt – als Mitglied des gemeinsamen Marktes ohne Mitgliedschaft im Euro und mit diversen Ausstiegsoptionen aus EU-Regelungen. Hört, hört. Es ist nun also der beste Deal nicht(!) im Euro zu sein? Das sagt ausgerechnete jener Mann, der gerade uns Deutsche noch vor wenigen Jahren unablässig aufforderte mehr für Griechenland zu tun, um es im Euro zu halten. Hier werden offensichtlich Spiele gespielt.

Und dieses empathielose Spiel mit dem Schicksal von Menschen ist wiederum sehr typisch für Menschen mit einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung. Zurück zu Soros: Auf den Brexit soll er diesmal nicht mit einer Wette gegen das Pfund gesetzt haben – seinen Ruhm erlangte er bekanntlich, als er 1992 gegen die Bank of England spekulierte und dabei rund eine Milliarde US-Dollar verdient haben soll. Auch andere waren vom Brexit überrascht. Der Spiegel druckte die ersten 350.000 Exemplare mit einem Cover zu einer Geschichte über Narzissmus, erst dann wurde auf das Brexit-Cover umgestellt.

 

Zu den Märkten
Was bedeutet all dies nun für die Märkte? Die entscheidende Frage ist, wie gut haben die Märkte die aktuelle Situation bereits eingepreist? Sind sie möglicherweise sogar über das Ziel hinausgeschlossen? Betrachten wir exemplarisch den Wechselkurs des britischen Pfundes gegenüber dem Euro (Abb., schwarze Linie) und gegenüber dem US-Dollar (Abb., rote Linie). In diesem langfristigen Chart seit dem Januar 1976 ist das 31-Jahres-Tief des GBP gegenüber dem USD zu erkennen, das auch im Blätterwald als Beleg für die „Dummheit“ der Briten angeführt wurde. Da seien in zweifacher Hinsicht Fragezeichen erlaubt. Erstens sind praktisch alle Notenbanken derzeit an einer (moderaten) Schwächung ihrer Währungen im Rahmen einer unausgesprochenen „beggar my neighbour“-Politik interessiert.

Die Abschwächung des Pfundes könnte insofern kein Nachteil sein. Auch werden gegenläufige Zinseffekte in einer de-facto-Nullzinsumgebung möglicherweise nicht sehr stark ausfallen. Obwohl die Rating-Agenturen die Briten unmittelbar mit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit bestraften, ist das Vereinigte Königreich deshalb nicht über Nacht zum Sanierungsfall geworden – zumindest nicht mehr als es das vorher bereits war. Zweitens haben die Briten nicht über einen Austritt aus den Vereinigten Staaten abgestimmt, sondern über einen Austritt aus der EU. Der relevante Vergleichsmaßstab ist also nicht der US-Dollar, sondern der Euro. Da gab es zwar ebenfalls erst einmal eine heftige Abwärtsbewegung, im Ergebnis sprechen wir bislang aber gerade einmal von einem Zweieinhalb-Jahrestief. Angesichts der „Jahrhundertentscheidung“ um Souveränität und Freiheit ist der Kollateralschaden hier also äußerst überschaubar. Im Chart der letzten Jahrzehnte sind sogar mehrfach größere Bewegungen aus nichtigeren Anlässen zu verzeichnen.

Fazit
Nach dem Brexit-Votum steht Europa vor neuen Herausforderungen. Wir hoffen, dass sich auf beiden Seiten nicht die Heißsporne durchsetzen, sondern mit Augenmaß und Vernunft verhandelt wird. Die ersten Tage nach der Entscheidung zeigten allerdings wenig Staatsmännisches aus Brüssel und Berlin.
 

Ralph Malisch

Quelle: Smart Investor