Sehr geehrte Privatanleger,
am Mittwoch habe ich zusammen mit 98 Einwanderern in Newark, New Jersey den Eid auf die amerikanische Verfassung abgelegt und bin nun amerikanischer Staatsbürger. Insgesamt habe ich bislang fast zehn Jahre in diesem Land gelebt. Meine deutsche Staatsbürgerschaft behalte ich. Gerade sitze ich in einem Internet-Cafe und schaue mir die Paraden zur Amtseinführung von George Bush an.
Ich möchte an dieser Stelle nicht die amerikanische Sozial-, Militär oder Außenpolitik diskutieren. Die Meinungen der Europäer und der Amerikaner gehen hier in vielen Fällen radikal auseinander. Aber ich möchte einige Worte über die amerikanische Wirtschaft verlieren.
Seit Anfang 2003 habe ich den Anteil der US-Aktien in meinen Portfolios verringert, weil ich der Meinung war, dass der Dollar fallen musste. Damit lag ich richtig. (Es wäre besser gewesen, wenn ich schon 2002 den US-Anteil reduziert hätte, aber an der Börse gibt es selten DAS perfekte Timing.) Bei den derzeitigen hohen Haushalts- und Leistungsbilanzdefiziten wird der Dollar noch weiter fallen. 1,50 oder 1,70 Dollar pro Euro sind aus meiner Sicht möglich.
Aber Aktien von Unternehmen der größten Volkwirtschaft der Erde gehören in jedes Portfolio. Amerika hat den bei weitem größten und innovativsten Kapitalmarkt der Welt. Ich würde einen Anteil von 30 Prozent als Mindestgrenze für den US-Anteil im Aktienportfolio ansehen.
Amerika bestimmt außerdem in großem Maße die Regeln der Weltwirtschaft und kümmert sich zunehmend weniger darum, was die anderen Länder darüber denken. Ein Beispiel: als ich letzte Woche in der Schweiz war, erfuhr ich, dass auf amerikanischen Druck sämtliche Einzahlungen über 10.000 Schweizer Franken nach dem Geldwäschegesetz gemeldet werden müssen. Das zieht natürlich das Bankgeheimnis arg in Mitleidenschaft und schadet dem Finanzplatz Schweiz. Wenn Sie jedoch in den USA mit einer größeren Summe zur Bank gehen, nimmt man das Geld gerne, ohne groß Fragen zu stellen.
So ist es in vielen Bereichen, sei es Software, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen – die Regeln begünstigen den, der sie macht. Die europäischen Airlines müssen seit Jahren die Daten aller Fluggäste in die USA an die amerikanischen Behörden melden. Es wäre naiv, anzunehmen, dass diese Daten nicht in den Marketingdatenbanken der amerikanischen Airlines landen.
Auch die Regeln der modernen Dienstleistungsgesellschaft sind amerikanische Regeln. Dienstleistungen werden immer mehr „geplant“; relativ niedrig qualifiziertes Servicepersonal wird Teil eines Mensch-Computer-Systems, und Planer in der Zentrale arbeiten die Systeme aus, die starr und nach strengen Regeln funktionieren. Heute habe ich eine Stunde gebraucht, bis eine Sachbearbeiterin in der Bank of America eine relativ einfache Frage gelöst hatte. Das war nicht der europäische Weg. Wie der Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler erläutert, gab es in Europa immer sehr gut qualifiziertes Personal, das flexibel einsetzbar war. Und dennoch setzt sich das US-Modell auch in Europa zunehmend durch.
Ich halte eine Krise des Weltfinanzsystems durchaus für möglich. Als Investoren können wir natürlich nicht alles auf diese Karte setzen, sondern müssen die Möglichkeit als einen Fall in unsere Planungen einbeziehen. Im Fall einer Krise würde der Dollar massiv fallen und die Zinsen würden wahrscheinlich steigen. Vor diesem Szenario müssen die Gläubigerländer in den USA und Asien mehr Sorge haben als die USA, die auf einen Schlag einen Großteil ihrer Schulden los wären.
Ein Mitglied unseres Online-Dienstes bat mich, noch mehr europäische Aktien zu analysieren – schließlich lebten wir in Europa und sollten uns mit Unternehmen beschäftigen, die ihren Sitz in unseren Gesellschaften haben. So könne man auch gesellschaftlichen Einfluß und Verantwortung in den Gesellschaften ausüben, in denen man lebe.
Ich stimme zu: wenn man Unternehmen in Europa findet, die die Chance haben, Weltmarktführer zu werden oder schwer angreifbare regionale Wettbewerbsvorteile haben (z.B. AWD, Celesio), dann sollte man diese Unternehmen auf jeden Fall in Betracht ziehen. Ich werde mich auf jeden Fall immer bemühen, hervorragende europäische Unternehmen zu finden.
Die meisten neuen Top-Unternehmen werden aber nach wie vor in dem Land entstehen, dass den größten Heimatmarkt hat. Dieser Vorteil wird den USA auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Zudem ist Amerika ein Einwanderungsland, etwas, das Deutschland und Europa schon längst hätten werden sollen. Das Sozialsystem – oder das, was davon übrig ist - ist in den USA bis zum Jahre 2040 sicher. Im Jahr 2050 wird das Durchschnittsalter in den USA von 35 auf 39 Jahre gestiegen sein. In Deutschland wird das Durchschnittsalter bei 55 Jahren liegen, wenn sich nichts Entscheidendes ändert. In den anderen europäischen Ländern und Japan sieht es nicht viel besser aus. So sehen die Realitäten aus, und deswegen muss man mit Engagements in den USA vertreten sein.
Erfolgreiche Investments wünscht Ihnen
Ihr
Prof. Dr. Max Otte
www.privatinvestor.de
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