Die Ankunft der Börsianer in der Herberge zur sechsten Glückseligkeit

Donnerstag, 23.11.00 11:55

1957 wurde in Hollywood ein berühmter Film mit zwei Weltstars gedreht. Die Geschichte spielt in China. Ein Zug Flüchtlinge vor den kommunistischen Horden Maos (entsprechend den finsteren Baissiers!) rettet sich in einer beschwerlichen Wanderung über hohe Gebirgspässe. Eskortiert werden sie von einem Kommando unter Leitung eines Ex-Generals (Curd Jürgens). Als die Gruppe bei einem Rasthaus ankommt, lockt sie die attraktive Chinesin (Ingrid Bergmann) mit den Worten: "Kommen Sie herein! Kommen Sie herein! Hier finden Sie keine Flöhe und keine Wanzen! Hier hören Sie nur schöne Geschichten!"

Trost, Aufmunterung und schöne Geschichten haben unsere Aktienfreunde in der Tat bitter nötig. Einen kräftigen Blutverlust haben sie am Neuen Markt bereits hinnehmen müssen. Sogar bei sogenannten "Marktführeren" stellten sie mit großem Erstaunen fest, dass Tagesverluste von 20 %, 30 % oder gar 50 % des Börsenwertes möglich sind. Die weithin empfohlenen Superaktien Intertainment, Gigabell, EM.TV, Infomatec, demnächst wahrscheinlich sogar amazon.com und Hunderte andere stehen vor dem Konkurs und bescheren den Aktionären eventuell Totalverluste.

Diese kleinen Episoden sind natürlich in keiner Weise ausreichend, um das in 18 Jahren Superhausse aufgebaute Vertrauen in die bestmöglichste Anlageform, die der menschliche Geist je ersonnen hat, zu erschüttern. Die Aktie wurde in erster Linie dazu erfunden, um Geld einzusammeln. Und zwar ohne die Hergabe von Sicherheiten, Substanz, verbindlichen Gewinn-Auszahlungen und äußerst lästigen Geld-zurück-Garantien. Um naive Menschen für diese seltsame Form der Kapitalanlage zu begeistern, sind eine riesige Menge von "schönen Geschichten" notwendig, dargebracht von prominenten Notenbankern, Bundeskanzlern und ganzen Heerscharen willfähriger Schreiberlinge, die das anlagesuchende Publikum auf ihrem "Weg zum Reichtum" mit Börsen-Zeichnungen von ewig in die Unendlichkeit steigenden Kursen begeistern.

Wirklich reich und sogar Milliardär wird man im Aktiengeschäft nur dadurch, dass man wie Bill Gates (Microsoft), Lawrence J. Ellison (Oracle) und John D. Rockefeller (Standard Oil, heute EXXON) Aktien emittiert und verkauft! Dank unserer hervorragenden deutschen Aktienkultur hat man dem unwissenden Börsenpublikum mit einem antiquierten Gesetz aus dem Jahre 1931 (bis heute gültig!) diese Möglichkeit verboten. Daher gibt es am Aktienmarkt nur Käufer, und wenn die Kurse fallen, verlieren alle! Diese schöne Geschichte ist leider wahr.

An der Börse von Chicago werden keine Aktien gehandelt, sondern greifbare Dinge wie Mais, Weizen und Sojabohnen. Eine wichtige Lektion, die man dort lernt, ist das erstaunliche Phänomen, dass der Preis aller Produkte fast unvorstellbare Höhen erreichen kann --- aber der Preis anschließend wieder exakt auf den Punkt zurückfällt, von dem er gekommen ist! So stieg der Dow Jones Index beginnend mit einem Anfangsstand von 40 (1896) zwar auf 381 (1929). Aber am 8. Juli 1932 stand er wieder bei 40!

Bei einem Stand von Dow 5000 hielt dies der US-Notenbankchef Alan Greenspan für eine "unglaubliche Übertreibung". Heute notiert der Dow bei über 10 000. Wundern Sie sich daher nicht darüber, wenn er wieder auf 5000 zurückfällt!


von Albrecht O. Pfeiffer, Floorbroker AOP, CBOT Chicago




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