Notenbanken stützen Finanzmärkte - Die Wende?

Donnerstag, 01.12.11 15:04
Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. Ein vielsagender Spruch von Erich Kästner (aus „Das fliegende Klassenzimmer“). Was wir an den Aktienmärkten seit dem Wochenende, insbesondere dann aber am Mittwoch erlebt haben, ist gewiss nicht alltäglich. Man reibt sich verwundert die Augen. Zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, als hätten die Börsen die konzertierte Liquiditätsspritze der Notenbanken geahnt. Die zuvor schon bemerkenswert festen Märkte reagierten nochmals mit spektakulären Kurssprüngen. Jetzt gehen also die wichtigsten Notenbanken Im Kampf gegen die Schuldenkrise gemeinsam in die Offensive. Die Europäische Zentralbank (EZB), die Federal Reserve in den USA sowie die Notenbanken Großbritanniens, Japans, Kanadas und der Schweiz kündigten am Mittwoch überraschend eine konzertierte Aktion an in der Absicht, die Banken und andere Wirtschaftsbereiche mit ausreichend frischem Geld zu versorgen. Erklärtes Ziel ist, ein Abgleiten in die Rezession zu verhindern.

Ist das jetzt die Wende gewesen? Beginnt ein nachhaltiger Erholungstrend der Aktien? Meine vorläufige Antwort: nein. Ich vermute eher das Zusammentreffen zweier technischer Faktoren – beflügelt durch eine unerwartete Liquiditätshilfe.

      1. Zum einen muss das globale Volumen an Short-Positionen vor dem Wochenauftakt enorm groß geworden sein. Als es zu einer Gegenreaktion auf die tagelange Schwäche kam, begann – wieder einmal Herdentrieb – eine Eindeckungswelle. Fundamental lagen kaum neue Erkenntnisse vor, und die Nachrichtenlage von den beiden kritischen Fronten (wacklige Banken, Staatsverschuldung) hatte sich eher noch verschlechtert. Die Medien und ihre Bad News u. a. zum Rating-Thema wurden ignoriert.


      2. Und dann zur Wochenmitte, als man das Ende der Zwischenerholung erwarten durfte, ein vorweihnachtliches Geschenk der Notenbanken – mehr Liquidität. Märkte lieben Liquidität, ist sie doch oft der ausschlaggebende Hausse-Faktor. Freude über diese seltene Aktion auf beiden Seiten des Atlantiks. Und eine willkommene Gelegenheit für alle institutionelle Skeptiker, ins Bullenlager zu wechseln, bietet sich doch nunmehr eine Chance, kurz vor dem Ultimo die nicht berauschenden Performanceergebnisse seiner Investments noch aufzubessern. Die Börsenumsätze zogen kräftig an: Auf Xetra wurden in den 30 Dax-Werten fast doppelt so viele Aktien wie am Dienstag gehandelt.


Was man dazu am Mittwochabend lesen konnte, hat mich nicht weniger überrascht: Analysten begrüßten das konzertierte Vorgehen in ersten Reaktionen einmütig. Dies zeige, dass die Verantwortlichen das Problem endlich angingen, sagte Mark Cliffe, Chefvolkswirt der ING Group. "Zuletzt haben wirklich düstere Szenarien die Runde gemacht. Angesichts dessen ist es wirklich umso wichtiger, dass sie nun mit aggressiven Maßnahmen das Bankensystem unterstützen." Postbank-Chefvolkswirt Marco Bargel erklärte, die Notenbanken wollten vor allem eine neue Liquiditätskrise abwenden, die wie schon nach der Lehmann-Pleite vor drei Jahren das globale Finanzsystem lähmen könnte: "Die Notenbanken stehen Gewehr bei Fuß. Jegliche Anzeichen einer Liquiditätskrise werden mit allen Mitteln bekämpft. Wenn Verspannungen auftreten, werden sie nachschießen." "Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass wirklich alle wichtigen Zentralbanken weltweit koordiniert vorgehen. Angesichts des eher unkoordinierten Vorgehens der Politik in der europäischen Schuldenkrise sorgt das für neue Zuversicht unter Investoren", sagte Hartwig Wild vom Frankfurter Bankhaus Metzler. "Seit Mai 2010 hat es keine weltweit koordinierte Aktion der Notenbanken mehr gegeben. Mit der heutigen Aktion gehen die Notenbanken wieder in die Offensive und signalisieren, notfalls dem Bankensystem genügend Liquidität in jeder gewünschten Form bereitzustellen", argumentierten Jens-Oliver Niklasch und Dirk Chlench von der Landesbank Baden-Württemberg.

Vergessen die laute Kritik an den Notenbanken, vergessen die Warnungen vor unbegrenztem Geldspritzen und Gelddrucken? Ich behaupte: Das Vorgehen von Fed, EZB und Co. ist letztlich der Beweis, dass die Situation im Finanzsektor beängstigend brisant geworden ist. Das Timing der Notenbank-Aktion war unter den gegebenen Umständen optimal. Ist danach der Weg frei, für die „richtigen“ Entscheidungen auf der politischen Ebene?

Ich werde gerne eine Fehleinschätzung später zugeben, wenn sich meine aktuelle Skepsis als übertrieben erweisen sollte. Es wäre doch zu schön um wahr zu sein, könnte man das Monatsende November als Datum für die Wende markieren! Die Liquiditätsspritzen sind wichtig, gewiss, sie heilen aber nicht die Krankheit. Aufatmen, bitte. Mehr noch nicht.

Machen Sie weiter mit – und machen Sie’s gut!
Ihr

Hermann Kutzer


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