Das mit Spannung erwartete Grünbuch der EU-Kommission zum europäischen Corporate Governance-Rahmen wird den hohen Erwartungen kaum gerecht. Viele der Themen werden schon seit Jahren intensiv diskutiert, z.B. die "Diversity" der Aufsichtsgremien und die Vergütungspraktiken der Gesellschaften. Vor allem ist aber kritisch zu fragen, ob die EU-Kommission bei ihren Vorschlägen nicht ihre Kompetenzen überschreitet und bewährte Corporate Governance-Grundsätze ohne Not in Frage stellt.
EU-Grünbuch unausgegoren
Der Bereich Corporate Governance ist mit dem Kapitalmarkt engstens verbunden. Gleichwohl ist die Zuständigkeit der EU-Kommission keineswegs selbstverständlich. Das Subsidiaritätsprinzip im EU-Vertrag verlangt zu Recht, dass EU-Organe nur tätig werden, wenn die jeweilige Frage auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht zufriedenstellend geregelt werden kann. Deshalb fallen auch bei der Corporate Governance weite Bereiche nicht in die Kompetenz europäischer Institutionen. Mindestens aber ist die Notwendigkeit einer europaeinheitlichen Regelung für die im Grünbuch angesprochenen Corporate Governance-Fragen nicht hinreichend belegt.
Weiterhin stellt das Grünbuch mit der Vermischung der Kompetenzen von Aufsichtsrat und Vorstand bewährte Grundsätze der Corporate Governance in Frage. So wird z.B. erwogen, dass der Aufsichtsrat den "Risikoappetit" des Unternehmens in eigener Verantwortung billigen und diese Entscheidung den Aktionären verständlich machen soll. Zusätzliche Kompetenzen des Aufsichtsrats können aber mit den Befugnissen zur Geschäftsführung durch den Vorstand kollidieren. Die Grenze zwischen Management- und Überwachungsfunktion im dualen System droht hier zu verwischen.
Auch der Vorschlag, der Aufsichtsrat müsse gewährleisten, dass die Vorkehrungen im Zusammenhang mit dem Risikomanagement des Unternehmens wirksam und seinem Profil angemessen sind, ist im dualen System verfehlt. Die operative Umsetzung von Risikomanagementfunktionen ist eindeutig Aufgabe des Vorstands. Wenn der Aufsichtsrat diese übernimmt, fehlt hierfür das Überwachungsorgan, so dass die Corporate Governance schlechter und nicht besser wird. Dieser Ansatz im Grünbuch würde einen tiefen Eingriff in nationales Gesellschaftsrecht bedeuten. Hierfür hat die EU keine Regelungskompetenz.
Subsidiarität hat aber noch eine weitere Dimension: Um den nach Größe, Rechtsform und Geschäftsmodell unterschiedlichen Unternehmen die notwendige Flexibilität zu erhalten, basieren die Grundsätze guter Unternehmensführung auf dem System der Selbstregulierung. Diese erfolgt in den EU-Mitgliedstaaten über Corporate-Governance-Kodizes, die in der Tradition unterschiedlicher Gesellschaftsrechtssysteme und Unternehmenskulturen voneinander abweichen. Die Kodizes gestatten den Gesellschaften hohe Flexibilität bei gleichzeitiger Transparenz für den Kapitalmarkt ("comply or explain"). Die Kommission zitiert eine methodisch angreifbare Studie, wonach 60 Prozent aller abgegebenen Erklärungen defizitär seien. Dies reicht als Datenbasis nicht aus, das Comply-or-explain-Prinzip in Frage zu stellen.
Zum anderen findet sich im Grünbuch der Denkansatz, dass einige Fragen der Corporate Governance von Außenstehenden oder gar Aufsichtsbehörden besser beurteilt werden könnten als von den Aktionären. Dies gilt für die Idee eines Zwangs zur externen Evaluation der Aufsichtsratstätigkeit ebenso wie für die Beaufsichtigung des "Comply-or-Explain"-Grundsatzes durch Regulierungsbehörden. Offensichtlich wird den Aktionären weder die Beurteilung des Aufsichtsrats zugetraut noch die Entscheidung, ob Erklärungen zu Kodex-Abweichungen zufriedenstellend sind oder nicht. Warum gerade Dritte dies besser beurteilen können als die Aktionäre, die das Kapitalrisiko tragen und damit ein starkes Eigeninteresse an effektiver Kontrolle haben, erklärt die Kommission nicht.
Viele der im Grünbuch angesprochenen Maßnahmen würden eine Beschneidung der Aktionärsrechte bedeuten. Dies kollidiert mit der Zielsetzung des Grünbuchs, das langfristige Engagement der Aktionäre zu verbessern.
Aktionär interessiert kaum
Am bedenklichsten ist jedoch die Motivation, aus der heraus die EU-Kommission die Corporate Governance weiterentwickeln will. Man findet sie nur ansatzweise im Grünbuch selbst, wohl aber in der Mitteilung der Kommission "Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte" vom 27.10.2010, auf die das Grünbuch verweist. Nicht die Lehren aus der Finanzkrise oder das Ziel einer besseren Unternehmensführung stehen im Vordergrund, sondern die Stärkung des Vertrauens der Bürger in den Binnenmarkt. Dieses soll durch Stärkung der sozialen Verantwortlichkeit der Unternehmen wiederhergestellt werden. Es scheint also gar nicht um das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt zu gehen, sondern um die Bekämpfung der "Binnenmarktmüdigkeit" der Bürger. Corporate Governance wird von der Idee der Selbstregulierung der Unternehmen bei Transparenz für den Kapitalmarkt und ihrer Beurteilung durch die Anteilseigner gelöst und in den Dienst "sozialer Verantwortung" gestellt, wie immer das gemeint ist.
Fazit: Mit den Vorschlägen des Grünbuchs werden bewährte Grundsätze praktischer und gültiger Corporate Governance in Deutschland verlassen. Die EU-Kommission muss sich fragen, ob die Entwicklung gesamteuropäischer Ansätze im Bereich der "guten Unternehmensführung" überhaupt mit dem existierenden EU-Vertragswerk vereinbar ist. Eine Bevormundung der Aktionäre durch Beschneidung ihrer Rechte und eine Umgehung nationaler Zuständigkeiten darf es ebenso wenig geben wie die Instrumentalisierung der Corporate Governance für gesellschaftspolitische Zielsetzungen.
Prof. Dr. Rüdiger von Rosen ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Aktieninstituts e.V. (DAI) in Frankfurt.
Quelle: Deutsches Aktieninstitut