Anlageempfehlungen - Was heißt kurz-, mittel- und langfristig?

Mittwoch, 20.06.12 17:52
Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

wie sollte sich der Privatanleger taktisch verhalten, also kurzfristig, jetzt nach der Griechenland-Wahl? Und: Sollte er (und wenn ja, warum) seine langfristige Strategie jetzt ändern? Eine intensive Diskussion an der Börse Stuttgart führte gestern zu unterschiedlichen Ergebnissen: In den nächsten Tagen und Wochen kann sich der Dax weiter erholen, mittelfristig – in den kommenden Monaten – droht aber ein weiterer Rückschlag unter die 6.000er-Marke. Langfristig gelten Aktien und Gold weiterhin als die attraktivsten Anlageobjekte.

Ich möchte aus diesem Anlass nochmals auf die Gefahr von Missverständnissen hinweisen, wenn es um den zeitlichen Anlagehorizont geht. Früher, als die Börsen noch Börsen waren, galt ganz grob – ausgehend vom Sprachgebrauch der Anleihemärkte – „kurzfristig“ für etwa ein bis zwei Jahre, „mittelfristig“ für drei bis acht Jahre und „langfristig“ für zehn Jahre und länger. Als Folge einer schier unglaublichen Beschleunigung aller Prozesse gerade an den Finanzmärkten durch die Digitalisierung hat sich der Blick dramatisch verkürzt: „Kurzfristig“ heißt heute an den Märkten entweder bis heute Abend oder bis zum kommenden Wochenende, höchsten einen Monat, unter „mittelfristig“ verstehen die meisten Akteure allenfalls ein paar Monate und „langfristig“ denkt kaum noch jemand – realistischerweise sollte man inzwischen dafür einen Zeitraum von etwa drei bis fünf Jahren ansetzen.

Stark beachtete Stimmungsindikatoren wie Ifo und ZEW haben kurzfristigen Charakter und können von Monat zu Monat eine andere Tendenz anzeigen. Andere Studien werden zumindest auf Jahresbasis durchgeführt. Dazu gehört die aktuelle Untersuchung „Challenges of Europe“ des GfK Vereins, die die Bürger Europas jährlich nach den dringend zu lösenden Aufgaben in ihrem Land fragt. Nach wie vor steht für die Deutschen die Arbeitslosigkeit an erster Stelle, allerdings mit deutlich rückläufiger Tendenz. Die Themen Inflation und wirtschaftliche Stabilität rücken damit dichter an das Top-Thema heran. Auch in Europa insgesamt führen diese drei Herausforderungen die Sorgenliste an. Aus aktuellem Anlass wurden in diesem Jahr auch die Griechen befragt.

Interessant: Die Deutschen machen sich im Vergleich zum Vorjahr deutlich weniger Sorgen: In der aktuellen Studie nannte jeder Bundesbürger im Durchschnitt 2,6 Probleme, die zu lösen sind (2011: 3,7 Probleme). Damit liegen die Deutschen noch vor den Griechen, die durchschnittlich 2,4 Herausforderungen nennen. In Europa liegt der Durchschnitt sogar nur bei 2,0 Problemen und damit ebenfalls deutlich niedriger als im Vorjahr (2011: 2,4). Nach wie vor die mit Abstand sorgenfreieste Nation ist Schweden mit durchschnittlich 1,1 genannten Herausforderungen. Arbeitslosigkeit bleibt Top-Thema – jedoch niedrigster Wert seit Beginn der Erhebungen

Weil die Börsianer seit der Griechenland-Wahl ihren Blick auf die Notenbanken richten – wird es neue Liquiditätsmaßnahmen geben? – wurde der neue ZEW-Index der Konjunkturerwartungen für Deutschland diesmal nur am Rand beachtet: Er ist im Juni 2012 um 27,7 Punkte gefallen und steht nun bei minus 16,9 Punkten. Es handelt sich um den stärksten Rückgang des Indikators seit Oktober 1998.

Zum deutlichen Rückgang des Indikators dürfte die Zuspitzung der Lage des spanischen Bankensektors und der über weite Teile des Umfragezeitraums noch unbekannte Ausgang der griechischen Parlamentswahl beigetragen haben.

„Die Erwartungen der Finanzmarktexperten warnen eindringlich vor einer allzu optimistischen Einschätzung der deutschen Konjunkturperspektiven in diesem Jahr. Denn die Risiken einer markanten Konjunkturabschwächung in wichtigen Handelspartnerländern sind unübersehbar. Hinzu kommt die nach wie vor brenzlige Lage im Euroraum. Das Votum der griechischen Wähler verschafft uns eine kurze Atempause – nicht mehr und nicht weniger“, kommentiert ZEW-Präsident Wolfgang Franz. Mein Kommentar: Denken Sie möglichst langfristig, handeln Sie dennoch möglichst kurz- bis mittelfristig!

Machen Sie also weiter mit – und machen Sie’s gut!
Ihr

Hermann Kutzer
Chefredakteur
Kutzers-Anlegerbrief

Er will seine Erfahrung einbringen, und davon hat er jede Menge: Hermann Kutzer gilt als der dienstälteste journalistische „Börsendino“ in Deutschland. Schon seit 1969 beobachtet der bekennende...


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